„Neuro“ ist in. Tages- und Wochenzeitungen berichten über Erkenntnisse der Hirnforschung zu fast allen Fragen des Lebens. In Selbsthilfe- und Managementliteratur verspricht allein die Vorsilbe „Neuro-“ ganz neue Antworten auf alte Fragen. Endlich, so die Hoffnung, lassen sich Probleme lösen, die bisher nur im Versuch- und Irrtum-Verfahren getestet werden konnten. Dahinter steht die Sehnsucht nach Stabilität und Sicherheit in einer Welt voller Unsicherheit und voller Menschen, die sich „unberechenbar“ verhalten. Die Titel suggerieren Machbarkeit für jedermann, leicht verständlich, eben „hirngerecht“, „mit Hirn“, „fürs Hirn“ usw.. So als sei es möglich, endlich verstehen und sogar steuern zu können, wie der Kollege auf eine schlechte Nachricht reagieren wird und was in den Köpfen von Schulkindern, Mitarbeitern, Führungskräften und Eltern passiert.
Fast scheint es, als sei ausgerechnet den hochabstrakten Neurowissenschaften der weite Sprung von der nur Experten zugänglichen Grundlagenforschung in die breite gesellschaftliche Diskussion gelungen, der Sprung aus dem Elfenbeinturm direkt ins Nachmittagsprogramm von Privatsendern und in die Titelgeschichten der Presse. Das Problem: Allzu oft werden Ergebnisse der Grundlagenforschung direkt und verkürzt auf menschliche Alltagsfragen und Probleme übertragen. Aber die Führung eines Unternehmens ist kein Laborbetrieb und nicht alles erlaubt den Schluss eins zu eins auf Menschen, Organisationen, Unternehmen.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ist dies selbstverständlich klar. Entsprechend schlecht ist der Ruf einiger in der Öffentlichkeit bekannter Autoren in Fachkreisen. Nicht klar ist dies jedoch vielen nach Erkenntnis dürstenden Lesern. Sie verlassen sich darauf, dass das, was gut dargestellt ist, auch gut und seriös recherchiert wurde. Leider ist dies jedoch nicht immer der Fall. Statt des gewünschten Brückenschlags zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit wird Wissenschaft auf diese Weise erneut entrückt, diesmal in die Rolle einer quasi-religiösen Heilsbringerin, der die Gemeinde mit andächtigem Staunen lauscht – und glaubt.
Wohltuend hebt sich darum von vielen Publikationen der „Neuro-Welle“ das Buch von Heiko J. Luhmann Alles Einbildung – Was unser Gehirn wirklich wahrnimmt ab. Auf knapp 200 Seiten führt Luhmann unprätentiös in eine Auswahl aktueller Themen der Hirnforschung ein. Es gelingt ihm, solide Grundlageninformation für Laien mit gut ausgewählten, interessanten Beispielen, einer Prise Humor und Ironie zu verbinden. Wichtig ist, dass Luhmann sich nicht scheut, auch klar die Grenzen derzeitiger Forschung aufzuzeigen; zum Beispiel warum die häufig gezeigten bunten Bilder von „Gehirnen bei der Arbeit“ leicht in die Irre führen können. Auch erspart Luhmann seinen Lesern nicht die Mühe, sich ein Grundverständnis von Strukturen, Funktionen und Begriffen zu erarbeiten. Das macht sein Buch zu einem anregenden Einstieg für Leser, die mehr über das Gehirn wissen möchten, als es Themenhefte diverser Magazine bieten, die jedoch (noch) davor zurückschrecken, direkt zu einer wissenschaftlichen Einführung zu greifen.
Im Mittelpunkt des Buches steht die grundsätzliche Frage „Was ist Wirklichkeit aus der Perspektive der Neurowissenschaften?“. Von ihr ausgehend erläutert Luhmann sechs Themenkomplexe:
1. Struktur und Funktion der Elemente, die im Gehirn Wirklichkeit abbilden
2. Aufnahme und Verarbeitung von Sinnesreizen im Gehirn
3. Beteiligung von Hirnstrukturen an der Erschaffung von Wirklichkeit im Wachen und im Schlaf
4. Wahrnehmungsänderungen bei Halluzinationen, Mediationen, Anästhesie und Drogenkonsum
5. Störungen der Wahrnehmung bei Erkrankungen
6. Zukünftige pharmakologische oder technologische Erweiterung kognitiver Leistungen
Die ersten beiden Kapitel des Buches stellen die größten Anforderungen an den Lernwillen des Neulings. Doch die Mühe lohnt sich und stellt die Lektüre der folgenden Kapitel auf eine solide Basis. Kann der Leser auf den ersten Seiten noch auf das Reservoir mehr oder minder verschütteten Schulwissens zurückgreifen, wird diese Schwelle zügig überschritten und die eine oder andere Passage zur Herausforderung.
Hilfreich sind das Glossar im Text verwendeter Fachtermini sowie eine Sammlung weiterführender Webseiten im Anhang. Für seine sorgfältig zusammengestellte Literaturliste wählt Luhmann mit Rücksicht auf die angesprochene Leserschaft vor allem deutschsprachige und Übersichtsartikel aus, legt jedoch Wert auf wissenschaftlich ausgewiesene Autoren und nachvollziehbare Quellenangaben. Dies ermöglicht, Studien und Ergebnisse bei Interesse zu recherchieren und genau nachzulesen. Es ist darum Luhmanns besonderes Verdienst, dass er auch den Nichtfachmann als Leser und Gesprächspartner ernst nimmt
Angesichts dieser Stärken, ist es schade, dass die Sprache des Buches schwankt zwischen dem Bemühen um Einfachheit und Allgemeinverständlichkeit auf der einen Seite und einer vom deutschen Wissenschaftsjargon stark geprägten Prosa auf der anderen Seite. So werden zum Beispiel englische Begriffe umfangreich erläutert, selbst wenn sie bereits im allgemeinen Sprachgebrauch üblich sind. An anderer Stelle dagegen bleibt der Kontext einzelner Begriffe und Abkürzungen unklar und der Griff zum Lexikon (oder die Suche in Wikipedia) der Initiative des Lesers überlassen. Hinzu kommen Redewendungen, die im wissenschaftlichen Diskurs üblich sind, in einem populärwissenschaftlichen Text jedoch irritieren. Zusätzliche, didaktisch aufbereitete Informationsgrafiken hätten die Lektüre an der einen oder anderen Stelle wesentlich erleichtern können. Die Empfehlung an einen Einsteiger ist daher, parallel einen Bildband zur Hand zu nehmen, zum Beispiel Rita Carters opulent gestaltetes Buch Das Gehirn.
Dass die sprachliche und gestalterische Ausführung gegenüber den inhaltlichen Stärken abfällt, lässt befürchten, dass das Buch nicht die breite Leserschaft finden wird, die ihm gebührt. Dies ist bedauerlich, insbesondere im Vergleich mit den vielen weit weniger fundierten und seriösen, dafür jedoch geschliffen formulierten, Büchern auf Bestsellerlisten. Erfreulich ist, dass das Buch immerhin im Verlag der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft bereits eine zweite Auflage erreicht hat. Nun sind die Mitglieder der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft eine verhältnismäßig ausgewählte Gruppe mit zum großen Teil akademischem und geisteswissenschaftlichem Hintergrund. Luhmanns Buch aber hätte das Potenzial, einen breiteren Leserkreis zu erreichen und zu interessieren. Vielleicht bietet eine mögliche dritte Auflage Gelegenheit, sprachlich und gestalterisch noch einmal nachzulegen.
Unabhängig davon bleibt das Buch auch in seiner jetzigen Form eine sehr empfehlenswerte Lektüre für all diejenigen, die mehr darüber wissen wollen, wie unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit entsteht, und die mit mehr Wissen und Sachkenntnis an den aktuellen Diskussionen teilhaben wollen!
Heiko J. Luhmann ist Professor für Physiologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Unter anderem ist er Mitglied im Fachkollegium Neurowissenschaften der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Initiator und Sprecher der DFG Forschergruppe „Barrel Cortex Function“. Er ist Fachherausgeber des Magazins Neuroscience der International Brain Research Organization, Herausgeber der Zeitschrift Neuroforum der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. sowie Vorstand der Deutschen Physiologischen Gesellschaft.
Heiko J. Luhmann:
Alles Einbildung! Was unser Gehirn wirklich wahrnimmt.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt
2. Durchgesehene Auflage 2015
Rita Carter u.a.:
Das Gehirn. Anatomie, Sinneswahrnehmung, Gedächtnis, Bewusstsein, Störungen.
Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe
Dorling Kindersley Verlag GmbH
München 2014